Religionsdifferenzen gesellschaftlich produktiv nutzen
Interreligiöses Projekt „Kohäsion durch Konflikt“ startet mit Vortrag des
Soziologen Armin Nassehi
Moderne Gesellschaften sind durch Ausdifferenzierung und Vielfalt geprägt. Sie
bringen Konflikte und Krisen hervor, die im Modus demokratischer Aushandlung
bearbeitet werden müssen. Doch scheinen tragfähige Gesamtlösungen im Sinne
eines „großen Wurfs“ kaum erreichbar, weil sich die unterschiedlichen
Wahrnehmungs- und Handlungslogiken der gesellschaftlichen Akteure nicht
dauerhaft synchronisieren lassen. Wie also lässt sich gesellschaftlicher
Zusammenhalt im Angesicht einer nicht reduzierbaren Pluralität denken und
fördern?
Das neu gegründete Netzwerk „Religion & Demokratie“ widmet sich diesem
Problem aus der Perspektive der Religionsgemeinschaften. Welche Beiträge
können sie zu einer demokratischen Kultur leisten? Unter dem programmatischen
Projekttitel „Kohäsion durch Konflikt“ führen und reflektieren die Netzwerkpartner
in den kommenden Jahren interreligiöse Gespräche mit dem Ziel, die
Verständigungspotenziale eines zivilisierten Streits hervorzuheben. Konflikt wird
hier bewusst seiner negativen Konnotation entkleidet und stattdessen als
demokratisches Versprechen sichtbar. Als Motor des Austarierens konkurrierender
religiöser Deutungsansprüche vermag er befriedend zu wirken.
Auf einer Tagung am 4. und 5. April fand nun der öffentliche Projektauftakt in der
Katholischen Akademie in Berlin statt. Deren Direktor Joachim Hake
diagnostizierte in seiner Eröffnung: „Die ehrliche Suche nach Gemeinschaft
beruhigt sich allzu oft bei blinden Kompromissformeln, Konsensrhetoriken und
einem blassen Allgemeinen, das weder dem Reichtum der einzelnen Religionen
noch ihren inneren und äußeren Widersprüchen gerecht wird. Hier setzt das
Netzwerk ‚Religion & Demokratie‘ einen Gegenakzent.“ Der aufgrund der
systemtheoretischen Ausgangsfrage als Gastredner gewählte Soziologe Prof. Dr.
Armin Nassehi hinterfragte indes grundsätzlich die Produktivkraft des
Kohäsionsbegriffes und plädierte demgegenüber für Differenz. Beschreibend
heiße das zunächst: „Politik muss handeln, Religion aber kann erleben.“ Fruchtbar
sei diese Abweichung, weil Religion in Konfliktsituationen zu anderen Themen
gelangen könne als Politik – etwa Barmherzigkeit. „Mit der Schwäche der
Menschen zu rechnen, ist in Krisen unglaublich wichtig.“ Auf solche Formen des
Erlebens ließe sich handelnd zugreifen durch Akteure, die kollektiv bindende
Entscheidungen treffen müssen. Darüber zeichne sich die Chance einer
kommunikativen Vermittlung von Religion und Politik ab. Prof. Nassehis
Schlusswort lautete freilich, auch dies sei keine Lösung, sondern nur eine andere
Formulierung des Problems. Das anschließende Panel aus Netzwerkpartnern
stellte den Lebensweltbezug des interreligiösen Dialogs heraus und betonte damit
dessen existenziell-persönliche Ebene.
Am zweiten Veranstaltungstag beleuchteten die Netzwerkpartner in internen
Gesprächsrunden gemeinsam mit ausgewählten Expertinnen und Experten die
drei Schwerpunktthemen des Projekts – namentlich den Bezug von Religion zu
Kultur, gesellschaftlicher Vielfalt und politischer Bildung. Anhand der Debatte um
den Philosophen Achille Mbembe wurde etwa das Verhältnis von Antisemitismus
und Postkolonialismus in den Blick genommen – sowohl inhaltlich wie
diskursbeobachtend. Hinsichtlich der faktisch vorgefundenen gesellschaftlichen
Pluralität kamen die Rolle von Sprecherpositionen im Dialog,
Identitätszuschreibungen gegenüber Minderheiten sowie Lernperspektiven im
Umgang mit Komplexität zur Sprache. Schließlich ging es im Rahmen von
interreligiöser Demokratiebildung um das Schaffen von Räumen wie
beispielsweise Akademien, in denen Gläubige als Bürgerinnen und Bürger
gesellschaftliche Verantwortung übernehmen können. Leitmotivisch schien in
allen Gesprächen die Bedeutung eines an Erkenntnisgewinn orientierten Streits
(„Machloket“) auf, der helfe, „Pluralitätsinkompetenz“ zu überwinden und
Gesellschaft produktiv zu gestalten.
Weitere Informationen über das Projekt „Kohäsion durch Konflikt“ und das
Netzwerk „Religion & Demokratie“ finden Sie unten. Falls Sie Fragen haben,
wenden Sie sich gern an info@bohnen-pa.com. Einen Video-Mitschnitt der
Veranstaltung vom 4. April finden Sie hier.
Das Netzwerk „Religion & Demokratie“
• Katholische Akademie in Berlin
• Dialogperspektiven. Religionen und Weltanschauungen im Gespräch
(Potsdam)
• Eugen-Biser-Stiftung (München)
• Lehrstuhl für Fundamentaltheologie und Ökumene der Paris Lodron
Universität Salzburg
Mission Statement
Das Projekt „Kohäsion durch Konflikt“ widmet sich Religionen als prägenden
Kräften kultureller und normativer (Selbst-)Verständigung. Religionen inspirieren,
indem sie Transzendenzerfahrungen und Sinnerwartungen Raum geben. Sie
irritieren, wo sie in ihrer Eigensinnigkeit gestaltend in die Gesellschaft
hineinwirken und neue Blickwinkel auf öffentliche Belange anregen. Sie entfalten
ihr produktives Potenzial, wenn sie damit Deutungsressourcen freisetzen und
Orientierungsangebote in säkularen Gesellschaften bereitstellen.
Vor diesem Hintergrund fördern wir ein reflektiertes und offenes, Brüche und
Konflikte ausdrücklich anerkennendes Gespräch religiöser Akteur*innen
untereinander und mit ihrer säkularen Umwelt. Ein wichtiger Anlass des
Gespräches ist die wachsende religiös-weltanschauliche Vielfalt. Im Lichte dieser
Entwicklung dient das Projekt einer verständigungsorientierten Aushandlung
widerstreitender Deutungen des guten Lebens, identitätsstiftender
Glaubensansprüche und religionspolitischer Teilhabeforderungen. Konflikt soll als
Medium der Kohäsion fruchtbar werden. Voraussetzung dafür ist die Kultivierung
von Sprachfähigkeit und Streitkompetenz an den Schnittstellen von Religion,
Gesellschaft und Politik. Im Zielhorizont steht ein friedvolles gesellschaftliches
Miteinander.
Das „säkulare Zeitalter“ ist begleitet von einer Wiederentdeckung religiöser
Identitätskonstruktionen, Denkfiguren und Handlungsimpulse. Damit verbunden
sind gesellschaftliche Reibungen. Ein Schlüssel zu deren produktiver Wendung
liegt gerade in der vertieften Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen.
Deswegen braucht es vermittelnde Akteur*innen, die alltagsbezogene religiöse
Probleme erkennen und entschärfen können. Im Bewusstsein der Sackgassen
und unbewältigten Konflikte des interreligiösen Dialoges schaffen wir konkrete
Dialogformate, um Vorurteile zu erfassen. Verständigung erwächst aus der Arbeit
an geteilten gesellschaftspolitischen Herausforderungen in unserer säkular-
pluralen Welt. Die Vielfalt religiöser Selbst-, Welt- und Gottesbezüge bedeutet
dabei ein Versprechen; sie vermag den Blick und die Akzeptanz für
gesellschaftliche Differenz zu schulen – und damit die demokratische Kultur zu
stärken.
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