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Kohäsion durch Konflikt

Autorenbild: IRDIRD

Aktualisiert: 16. Jan. 2023

Religionsdifferenzen gesellschaftlich produktiv nutzen



Interreligiöses Projekt „Kohäsion durch Konflikt“ startet mit Vortrag des

Soziologen Armin Nassehi


Moderne Gesellschaften sind durch Ausdifferenzierung und Vielfalt geprägt. Sie

bringen Konflikte und Krisen hervor, die im Modus demokratischer Aushandlung

bearbeitet werden müssen. Doch scheinen tragfähige Gesamtlösungen im Sinne

eines „großen Wurfs“ kaum erreichbar, weil sich die unterschiedlichen

Wahrnehmungs- und Handlungslogiken der gesellschaftlichen Akteure nicht

dauerhaft synchronisieren lassen. Wie also lässt sich gesellschaftlicher

Zusammenhalt im Angesicht einer nicht reduzierbaren Pluralität denken und

fördern?


Das neu gegründete Netzwerk „Religion & Demokratie“ widmet sich diesem

Problem aus der Perspektive der Religionsgemeinschaften. Welche Beiträge

können sie zu einer demokratischen Kultur leisten? Unter dem programmatischen

Projekttitel „Kohäsion durch Konflikt“ führen und reflektieren die Netzwerkpartner

in den kommenden Jahren interreligiöse Gespräche mit dem Ziel, die

Verständigungspotenziale eines zivilisierten Streits hervorzuheben. Konflikt wird

hier bewusst seiner negativen Konnotation entkleidet und stattdessen als

demokratisches Versprechen sichtbar. Als Motor des Austarierens konkurrierender

religiöser Deutungsansprüche vermag er befriedend zu wirken.


Auf einer Tagung am 4. und 5. April fand nun der öffentliche Projektauftakt in der

Katholischen Akademie in Berlin statt. Deren Direktor Joachim Hake

diagnostizierte in seiner Eröffnung: „Die ehrliche Suche nach Gemeinschaft

beruhigt sich allzu oft bei blinden Kompromissformeln, Konsensrhetoriken und

einem blassen Allgemeinen, das weder dem Reichtum der einzelnen Religionen

noch ihren inneren und äußeren Widersprüchen gerecht wird. Hier setzt das

Netzwerk ‚Religion & Demokratie‘ einen Gegenakzent.“ Der aufgrund der

systemtheoretischen Ausgangsfrage als Gastredner gewählte Soziologe Prof. Dr.

Armin Nassehi hinterfragte indes grundsätzlich die Produktivkraft des

Kohäsionsbegriffes und plädierte demgegenüber für Differenz. Beschreibend

heiße das zunächst: „Politik muss handeln, Religion aber kann erleben.“ Fruchtbar

sei diese Abweichung, weil Religion in Konfliktsituationen zu anderen Themen

gelangen könne als Politik – etwa Barmherzigkeit. „Mit der Schwäche der

Menschen zu rechnen, ist in Krisen unglaublich wichtig.“ Auf solche Formen des

Erlebens ließe sich handelnd zugreifen durch Akteure, die kollektiv bindende

Entscheidungen treffen müssen. Darüber zeichne sich die Chance einer

kommunikativen Vermittlung von Religion und Politik ab. Prof. Nassehis

Schlusswort lautete freilich, auch dies sei keine Lösung, sondern nur eine andere

Formulierung des Problems. Das anschließende Panel aus Netzwerkpartnern

stellte den Lebensweltbezug des interreligiösen Dialogs heraus und betonte damit

dessen existenziell-persönliche Ebene.

Am zweiten Veranstaltungstag beleuchteten die Netzwerkpartner in internen

Gesprächsrunden gemeinsam mit ausgewählten Expertinnen und Experten die

drei Schwerpunktthemen des Projekts – namentlich den Bezug von Religion zu

Kultur, gesellschaftlicher Vielfalt und politischer Bildung. Anhand der Debatte um

den Philosophen Achille Mbembe wurde etwa das Verhältnis von Antisemitismus

und Postkolonialismus in den Blick genommen – sowohl inhaltlich wie

diskursbeobachtend. Hinsichtlich der faktisch vorgefundenen gesellschaftlichen

Pluralität kamen die Rolle von Sprecherpositionen im Dialog,

Identitätszuschreibungen gegenüber Minderheiten sowie Lernperspektiven im

Umgang mit Komplexität zur Sprache. Schließlich ging es im Rahmen von

interreligiöser Demokratiebildung um das Schaffen von Räumen wie

beispielsweise Akademien, in denen Gläubige als Bürgerinnen und Bürger

gesellschaftliche Verantwortung übernehmen können. Leitmotivisch schien in

allen Gesprächen die Bedeutung eines an Erkenntnisgewinn orientierten Streits

(„Machloket“) auf, der helfe, „Pluralitätsinkompetenz“ zu überwinden und

Gesellschaft produktiv zu gestalten.

Weitere Informationen über das Projekt „Kohäsion durch Konflikt“ und das

Netzwerk „Religion & Demokratie“ finden Sie unten. Falls Sie Fragen haben,

wenden Sie sich gern an info@bohnen-pa.com. Einen Video-Mitschnitt der

Veranstaltung vom 4. April finden Sie hier.

Das Netzwerk „Religion & Demokratie“

• Katholische Akademie in Berlin

• Dialogperspektiven. Religionen und Weltanschauungen im Gespräch

(Potsdam)

• Eugen-Biser-Stiftung (München)

• Lehrstuhl für Fundamentaltheologie und Ökumene der Paris Lodron

Universität Salzburg

Mission Statement

Das Projekt „Kohäsion durch Konflikt“ widmet sich Religionen als prägenden

Kräften kultureller und normativer (Selbst-)Verständigung. Religionen inspirieren,

indem sie Transzendenzerfahrungen und Sinnerwartungen Raum geben. Sie

irritieren, wo sie in ihrer Eigensinnigkeit gestaltend in die Gesellschaft

hineinwirken und neue Blickwinkel auf öffentliche Belange anregen. Sie entfalten

ihr produktives Potenzial, wenn sie damit Deutungsressourcen freisetzen und

Orientierungsangebote in säkularen Gesellschaften bereitstellen.

Vor diesem Hintergrund fördern wir ein reflektiertes und offenes, Brüche und

Konflikte ausdrücklich anerkennendes Gespräch religiöser Akteur*innen

untereinander und mit ihrer säkularen Umwelt. Ein wichtiger Anlass des

Gespräches ist die wachsende religiös-weltanschauliche Vielfalt. Im Lichte dieser

Entwicklung dient das Projekt einer verständigungsorientierten Aushandlung

widerstreitender Deutungen des guten Lebens, identitätsstiftender

Glaubensansprüche und religionspolitischer Teilhabeforderungen. Konflikt soll als

Medium der Kohäsion fruchtbar werden. Voraussetzung dafür ist die Kultivierung

von Sprachfähigkeit und Streitkompetenz an den Schnittstellen von Religion,

Gesellschaft und Politik. Im Zielhorizont steht ein friedvolles gesellschaftliches

Miteinander.

Das „säkulare Zeitalter“ ist begleitet von einer Wiederentdeckung religiöser

Identitätskonstruktionen, Denkfiguren und Handlungsimpulse. Damit verbunden

sind gesellschaftliche Reibungen. Ein Schlüssel zu deren produktiver Wendung

liegt gerade in der vertieften Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen.

Deswegen braucht es vermittelnde Akteur*innen, die alltagsbezogene religiöse

Probleme erkennen und entschärfen können. Im Bewusstsein der Sackgassen

und unbewältigten Konflikte des interreligiösen Dialoges schaffen wir konkrete

Dialogformate, um Vorurteile zu erfassen. Verständigung erwächst aus der Arbeit

an geteilten gesellschaftspolitischen Herausforderungen in unserer säkular-

pluralen Welt. Die Vielfalt religiöser Selbst-, Welt- und Gottesbezüge bedeutet

dabei ein Versprechen; sie vermag den Blick und die Akzeptanz für

gesellschaftliche Differenz zu schulen – und damit die demokratische Kultur zu

stärken.

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