Mit dem Soziologen Prof. em. Dr. Natan Sznaider lud das Netzwerk „Religion & Demokratie“ am 24. Oktober 2024 einen der führenden Intellektuellen Israels ein, um den Abschluss seines interreligiösen Projektes „Kohäsion durch Konflikt“ zu begehen. In der Katholischen Akademie in Berlin ging es um eine Bestandsaufnahme der Rezeptionsschleifen des nun ein Jahr zurückliegenden Hamas-Überfalls und seiner Folgen.
Sznaider gewährte zunächst einen sehr persönlichen Einblick in das Erleben der bis heute nicht vergangenen Vergangenheit des Massakers vom 7. Oktober 2023 in Israel. Anhand kleiner Beobachtungen skizzierte er das Bild eines Landes, das sich jedweder Zukunftsorientierung beraubt sehe. In alltäglichen Begegnungen werde die Frage „Wie geht’s dir?“ nicht mehr gestellt, gleichsam entplausibilisiert durch die kollektive Schreckenserfahrung. Das Trauma offenbare sich laut Sznaider im „Nicht-Lebensgefühl“ eines zirkulären Zeitempfindens und der damit einhergehenden Handlungslähmung. Das zurückliegende Jahr scheine wie ein einziger großer Tag, all vorwärts gerichteter Gestaltungsanspruch perdu. „Wie bringt man Gott zum Lachen?“, so das Zitat eines jüdischen Sprichwortes – „Man macht Pläne.“
Im zweiten Schritt stellte Sznaider einige Überlegungen zur säkular-theologischen Doppelbedeutung des prekär gewordenen Sicherheitsbegriffes an. Als Ausgangspunkt diente ihm Psalm 115,9: „Israel, vertrau auf den Herrn, er ist Schild und ihre Hilfe.“ Das darin angesprochene Vertrauen sei besser als Sicherheit zu übersetzen – im theologischen Sinne einer in die Hände Gottes gelegten Sicherheit. Die zionistische Revolution habe diese Sprache aus den alten Quellen mitgenommen. Oder umgekehrt: „Die theologische Sprache hat sich in die Alltagssprache hineingerettet.“ Damit, so ließe sich Sznaiders Argument fassen, vollzog sich ein Prozess kultureller Osmose. Die heilige Sprache sei säkularisiert, die säkulare Sprache heilig aufgeladen worden. Sichtbar sei dies etwa an der Bezeichnung des für Verteidigung zuständigen Kabinettsmitgliedes als „Sicherheitsminister“ oder der Allgegenwart des Sicherheitstopos an Schulen, Synagogen und Flughäfen. Am 7. Oktober aber, dem größten Massaker an Jüdinnen und Juden seit der Shoa, sei es zum „Zusammenbruch der ontologischen Sicherheit“ gekommen. Gezielt hätten die Hamas-Terroristen Erinnerungsmuster nicht aus der israelischen, sondern der jüdischen Geschichte hervorgerufen, um mit dem Selbstvertrauen ihrer Opfer zugleich ihr Gottvertrauen zu zerstören. Wenn Sicherheit säkular und religiös codiert ist, so die zynische Pointe, fährt auch der Nihilismus zweigleisig. Aus jüdischer Perspektive wiederum verschränke sich die Stummheit der israelischen Sicherheitskräfte mit der Stummheit Gottes. Die Folgen sind tragisch: Nolens volens perpetuierten die von der Hamas provozierten israelischen Versuche einer militärischen Rückeroberung von Souveränität und Gottvertrauen die Zeitschleife eines ewigen 7. Oktober.
Im anschließenden Gespräch mit Dr. Jörg Lüer, Geschäftsführer der mit Auslandsfragen im Katholizismus befassten Deutschen Kommission Justitia et Pax, wandte sich Sznaider gegen universalistische Visionen zur Lösung des Nahostkonfliktes (wie jüngst etwa von Omri Boehm vorgetragen). Kantianische Kategorien des Allgemeinmenschlichen liefen ins Leere, wo präreflexive Gruppenzugehörigkeit im Vordergrund stehe. So verwahrte sich Sznaider auch gegen den Begriff der Empathie, zumal als Gratisforderung nichtbeteiligter Akteure. Hilfreich sei vielmehr die Übernahme politischer Verantwortung, aus der Verhandlungen und ein Waffenstillstand erwachsen könnten.
Lüer wiederum gab mit Bertolt Brecht zu bedenken, ob nicht auch der „Hass gegen das Unrecht die Züge verzerre“. Angesichts verhärteter Fronten in einem „Resonanzraum permanenter gegenseitiger Retraumatisierung“ könne eine bescheidene Chance zumindest darin liegen, das „Tempo des Gewaltzirkels“ zu reduzieren. Aus seiner umfangreichen Erfahrung in anderen Weltregionen mit gewaltbelasteter Vergangenheit – etwa im Balkan und in Kamerun – führte Lüer außerdem den Gedanken ein, dass die Debatte um Israel und Palästina teils wenig bis gar nichts mit Israel und Palästina zu tun habe. Häufig handele es sich um „Projektionen auf Basis eigener Identitäten“, mit denen ein „paradoxer Angriff auf den Westen“ geführt werde. Dieser bediene sich aus dem Symbolhaushalt des Antisemitismus und lade damit gewissermaßen „unsere Geschichte“ auf dem Rücken Israels ab.
Sznaider griff den Verweis auf die besondere Lage Israels – aus Europa stammend, aber nicht in Europa liegend – auf, um die gescheiterte Assimilation als bleibende „jüdische Wunde“ zu markieren. Für ihn beendete der 7. Oktober den aufklärerischen Traum der Auflösung jüdischer Identität in universaler Humanität. Natan, der Realist, findet keinen Wegweiser in Nathan, dem Weisen.
Hier finden Sie eine Videoaufzeichnung des Gesprächsabends.
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